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Montag, 15. August 2011

Van Huygens stolze Sammlung toter Exemplare

Professor van Huygens schleicht sich nahe an den Schatten spendenden Häusern die Saarstraße entlang zu einem Supermarkt ganz in der Nähe. Die Sonne brütet heute ganz ungewöhnlich heiß über Rumor City, und bräuchte Professor van Huygens nicht ganz dringend einen trockenen Rotwein, er wäre keinesfalls um die Mittagszeit außer Haus gegangen.

Es ist ihm unerträglich heiß, jeder Schritt, der mehr oder weniger dem lustigen Staksen eines Flamingos gleicht und in Zeitlupe vollzogen wird, gerät ihm zur Qual. Nur gut, dass er wie jeden Tag seine Tropenuniform aus den Tagen seiner früheren Expeditionen trägt. Solch eine Hitze ist nichts mehr für einen Mann in seinem jetzigen stolzen Alter von siebenundachtzig Jahren.

Früher, ja früher hatte er in Tansania Schmetterlinge gejagt, da vermochte er der Hitze das Geheimnis eines kühlen Kopfes zu entlocken. Aber heute klassifiziert und pflegt er lediglich noch die stolze Sammlung toter Exemplare, die aus der Jagd hervorgegangen ist. Und da bevorzugt er seine ewigen Schatten spendenden Räume, deren Fenster vor aller Leute Blicke stets verhüllt sind.

Professor van Huygens mag die Menschen nicht wirklich, er lebt zurückgezogen und allein und erlebt Dinge, die man nur im Alleinsein erleben kann. Wie sein Traum bloß wieder auf die Idee gekommen war, ihn mit dem Geist von Friedrich Nietzsche kommunizieren zu lassen, als sei es Wirklichkeit gewesen. Aber naja, das ist auch kein Wunder, die Hundstage nähern sich ihrem Ende und schließlich ist es Mittwoch, der 23. August 1971.

Plötzlich bleibt Professor van Huygens unvermittelt stehen und verharrt in einer Pose geistesabwesender Verinnerlichung, lange genug, so dass sein ewig im Mundwinkel hängender Zigarrenstumpen ausgeht. Dann kehrt er abrupt um und beschleunigt sogar seine Schritte ein wenig in Richtung seines Hauses. Vergessen, sein ehedem dringlicher Wunsch nach einem trockenen Chablis. Es gibt wichtigeres zu tun!

Am Fuße des Heringsbergs hat sich ein knapp achtjähriger Junge namens Kolja Levington in einem ausgebrannten Baumstamm versteckt und schaut reglos durch ein Astloch in die Ferne. Er liebt das. Tagein tagaus könnte er reglos in diesem Baumstamm stehen und durch jenes Astloch schauen, das ihm den Blick auf den versunkenen Kontinent Mu erlaubt. Instinktiv weiß er: Kein Mensch wird ihm das jemals glauben! Ja, es macht nicht einmal Sinn, ihnen ansatzweise davon zu berichten. Diese Aussicht ist nur für ihn gedacht, wird nur ihm gewährt, damit er sich wenigstens auf der Ebene der unartikulierbaren Gewissheit darüber bewusst wird, dass er keiner von ihnen ist, sondern ein Vek.

Professor van Huygens erwacht aus einem tiefen, von Träumen gewobenen Schlaf, erhebt sich und greift nach der grünen Flasche neben seinem Bett: der Chablis ist leer. »Ich werde eine Flasche holen müssen«, sagt er müde vor sich hin und wundert sich, ob er nicht heute schon einmal in der Mittagshitze draußen war. »Nein, das war gestern«, sagt er zu sich selbst, und antwortet dann aber verwundert: »Aber du denkst immer, etwas sei gestern gewesen, das vor einem Schlaf lag.« – »Stimmt!« pflichtet er sich bei und beginnt herzhaft zu lachen.

»Ich frage mich, woher die Träume kommen und was der Tanz der Schmetterlinge auf den von Sonnenstrahlen reflektierten Gravitationswellen damit zu hat.« – »Frag’ lieber nicht!«, antwortet eine Stimme, von der Professor van Huygens nicht genau sagen kann, ob sie aus seinem Inneren kommt oder von außerhalb zu ihm spricht. »Du bist schon verwirrt genug darüber, mit Friedrich Nietzsche kommuniziert zu haben.« – »Stimmt, das war auch gestern. — Also war ich heute doch schon auf dem Weg einen Wein zu holen. — Zeit ist wirklich eine verwirrende Angelegenheit. — Einstein … — Wie kommt der Traum bloß darauf, mir durch ein Astloch die absolute Wahrheit zu zeigen?«

Dienstag, 6. Oktober 2009

Zwanzig Jahre

Zwanzig Jahre ist es jetzt schon her. Zwanzig Jahre. Zwanzig lange Jahre.

In diesem Herbst feiern alle die Ereignisse des Herbstes vor zwanzig Jahren. Glanzlichter der Geschichte. Dazu angetan, dich zu überstrahlen. Zwanzig historische Jahre sind nichts. Absolut nichts. Vor allem, bedenkt man, was daraus geworden ist. Es gibt kein Richtig oder Falsch. Es gibt kein Gut, kein Böse. Es bedeutet alles. Nichts.

Ich kannte gerade mal seinen Namen. Flüchtig hattest du ihn mal erwähnt. Er bedeute nichts. „Nur ein Name. Schall und Rauch.“ So hielt ich ihn auch nur am Rande meiner Erinnerung auf Abstand, diesen Stich in mein Herz. Rune.

Wir waren verrückt. Ich war verrückt. Nach dir. Du warst verrückt. Danach, verrückter noch zu sein als ich. Zwei Motten, die ums selbst gelegte Feuer tanzten. Alles sollte entflammen wie unsere Verrücktheit. Glühen wie unsere Leidenschaft. Nichts sollte bleiben, wie es war. Vor allem nicht so bedeutungslos und leer wie diese Tage vor unseren Tagen.

Ans Meer. In tiefe Wälder. Es zog dich fort wie eine fremde Macht. Ich schrieb mit Hochdruck an dem Buch, das längst von mir erwartet wurde. „Ich fahr’ schon vor. Komm bitte nach.“ Es zog dich fort wie eine fremde Macht, die stärker war als ich. Oder warst du doch die Verrücktere von beiden? „Ich fahr’ schon vor.“ Ans Meer. In tiefe Wälder. „Komm bitte nach.“

Ich schrieb, als könnte ich Leben retten. Als ließe Zeit sich irgendwie gewinnen. Ich schrieb und der Mond leuchtete mir durch die Nacht. Sein Bild auf dem Meeresspiegel hob und senkte sich mit den Gezeiten und verschwand bei Tagesanbruch einfach so ins Nichts.

Ich war verrückt. Vor Eifersucht. Ich wusste, du triffst ihn in dem blauen Haus hinterm Birkenwald. Ich wusste, dich interessiert die Straße nicht, die auf diese Insel führt. Die lange Brücke nicht und nicht der Sturm, den das wilde Meer gebar.

Zwanzig Jahre ist das jetzt schon her. Das Telefon klang damals noch wie eine Klingel. „Hier ist Rune“, sagte er. Ich konnte mir beim allerbesten Willen nicht erklären, woher er meine Nummer hatte. Ich schwieg. Weshalb rief er mich an? Er schwieg. Weshalb rief er mich an?

„Sie ist tot“, hauchte er und teilte seinen Schmerz mit meinem. – Wieso? Was für ein Bus?

Von der Fahrbahn abgekommen... Ironie kennt kein Erbarmen.

Zwanzig Jahre ist das jetzt schon her. Zwanzig lange Jahre. –
Mein Gott, Dein Wille geschah.