Professor van Huygens schleicht sich nahe an den Schatten spendenden Häusern die Saarstraße entlang zu einem Supermarkt ganz in der Nähe. Die Sonne brütet heute ganz ungewöhnlich heiß über Rumor City, und bräuchte Professor van Huygens nicht ganz dringend einen trockenen Rotwein, er wäre keinesfalls um die Mittagszeit außer Haus gegangen.
Es ist ihm unerträglich heiß, jeder Schritt, der mehr oder weniger dem lustigen Staksen eines Flamingos gleicht und in Zeitlupe vollzogen wird, gerät ihm zur Qual. Nur gut, dass er wie jeden Tag seine Tropenuniform aus den Tagen seiner früheren Expeditionen trägt. Solch eine Hitze ist nichts mehr für einen Mann in seinem jetzigen stolzen Alter von siebenundachtzig Jahren.
Früher, ja früher hatte er in Tansania Schmetterlinge gejagt, da vermochte er der Hitze das Geheimnis eines kühlen Kopfes zu entlocken. Aber heute klassifiziert und pflegt er lediglich noch die stolze Sammlung toter Exemplare, die aus der Jagd hervorgegangen ist. Und da bevorzugt er seine ewigen Schatten spendenden Räume, deren Fenster vor aller Leute Blicke stets verhüllt sind.
Professor van Huygens mag die Menschen nicht wirklich, er lebt zurückgezogen und allein und erlebt Dinge, die man nur im Alleinsein erleben kann. Wie sein Traum bloß wieder auf die Idee gekommen war, ihn mit dem Geist von Friedrich Nietzsche kommunizieren zu lassen, als sei es Wirklichkeit gewesen. Aber naja, das ist auch kein Wunder, die Hundstage nähern sich ihrem Ende und schließlich ist es Mittwoch, der 23. August 1971.
Plötzlich bleibt Professor van Huygens unvermittelt stehen und verharrt in einer Pose geistesabwesender Verinnerlichung, lange genug, so dass sein ewig im Mundwinkel hängender Zigarrenstumpen ausgeht. Dann kehrt er abrupt um und beschleunigt sogar seine Schritte ein wenig in Richtung seines Hauses. Vergessen, sein ehedem dringlicher Wunsch nach einem trockenen Chablis. Es gibt wichtigeres zu tun!
Am Fuße des Heringsbergs hat sich ein knapp achtjähriger Junge namens Kolja Levington in einem ausgebrannten Baumstamm versteckt und schaut reglos durch ein Astloch in die Ferne. Er liebt das. Tagein tagaus könnte er reglos in diesem Baumstamm stehen und durch jenes Astloch schauen, das ihm den Blick auf den versunkenen Kontinent Mu erlaubt. Instinktiv weiß er: Kein Mensch wird ihm das jemals glauben! Ja, es macht nicht einmal Sinn, ihnen ansatzweise davon zu berichten. Diese Aussicht ist nur für ihn gedacht, wird nur ihm gewährt, damit er sich wenigstens auf der Ebene der unartikulierbaren Gewissheit darüber bewusst wird, dass er keiner von ihnen ist, sondern ein Vek.
Professor van Huygens erwacht aus einem tiefen, von Träumen gewobenen Schlaf, erhebt sich und greift nach der grünen Flasche neben seinem Bett: der Chablis ist leer. »Ich werde eine Flasche holen müssen«, sagt er müde vor sich hin und wundert sich, ob er nicht heute schon einmal in der Mittagshitze draußen war. »Nein, das war gestern«, sagt er zu sich selbst, und antwortet dann aber verwundert: »Aber du denkst immer, etwas sei gestern gewesen, das vor einem Schlaf lag.« – »Stimmt!« pflichtet er sich bei und beginnt herzhaft zu lachen.
»Ich frage mich, woher die Träume kommen und was der Tanz der Schmetterlinge auf den von Sonnenstrahlen reflektierten Gravitationswellen damit zu hat.« – »Frag’ lieber nicht!«, antwortet eine Stimme, von der Professor van Huygens nicht genau sagen kann, ob sie aus seinem Inneren kommt oder von außerhalb zu ihm spricht. »Du bist schon verwirrt genug darüber, mit Friedrich Nietzsche kommuniziert zu haben.« – »Stimmt, das war auch gestern. — Also war ich heute doch schon auf dem Weg einen Wein zu holen. — Zeit ist wirklich eine verwirrende Angelegenheit. — Einstein … — Wie kommt der Traum bloß darauf, mir durch ein Astloch die absolute Wahrheit zu zeigen?«
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